Drei-Generationen-Familie. Die Wagenburg im 21. Jahrhundert.

3. April 2017 Lesezeit: Themen
Astrid von Friesen und ihr Co-Autor Gerhard Wilke plädieren für einen intelligenten Umgang mit den Beständigkeiten, der Normalität und den entwicklungsfördernden Aspekten der Generationen-Abfolge. In ihrem gemeinsamen Buch „Generationen-Wechsel: Normalität, Chance oder Konflikt?“ integrieren sie unterschiedliche Blickwinkel aus den Erfahrungen ihrer Professionen. Im Interview mit bring-together gibt uns die Autorin einen kleinen Einblick in ein gesellschaftlich brisantes Thema.
Generationen-Wechsel: Normalität, Chance oder Konflikt? – Astrid von Friesen und Co-Autor Gerhard Wilke

Karin Demming: Frau von Friesen, Sie und ihr Co-Autor haben ein ungewöhnliches Thema gewählt, denn Literatur über Generationen-Aspekte gab es seit Jahrzehnten nicht mehr! Warum?

Astrid von Friesen: In der existierenden psychologischen, soziologischen und politischen Literatur lag das Augenmerk seit den 1960er Jahren auf den Konflikten und den Auflösungsphänomenen der Generationen-Abfolgen, dem gesamtgesellschaftlichen Wandel sowie den sich daraus ergebenden Konflikten. Es ging seitdem ständig um Patchwork- und andere Regenbogen-Familien, jedoch meist nur auf der horizontalen Ebene. Nicht vertikal.

Doch jeder Mensch ist Teil einer Drei-Generationen-Hierarchie von Großeltern, Eltern und Kindern, egal, ob das Leben in der Ein-Eltern-Mini-Rest-Familie, im Single- oder Homosexuellen-Haushalt stattfindet. Wir alle denken in diesem Drei-Generationen-Prinzip, welches offen oder versteckt in fast allen gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen wirkt. Es ist ein elementarer Grundbaustein und eine elementare Kraft jeglicher sozialen Ordnung seit Anbeginn aller Zeiten, wie Gerhard Wilke, der Ethnologie in Cambridge studiert hat, immer wieder betont.

Dieses aus mehreren Subgruppen bestehende Netzwerk bildet nämlich die Grundlage aller anderen gesellschaftlichen Strukturen: Meister-Geselle-Lehrling oder Chefarzt-Oberarzt-Stationsarzt oder Chef-Abteilungsleiter und Team – auch in den weltweiten Peergroups der wissenschaftlichen Fachbereiche, benachbarten Abteilungen in einem Großunternehmen, Partnerschaften z.B. in juristischen Kanzleien oder Arztpraxen, in freiberuflichen Netzwerken oder Schulen.

Ethnologisch lässt sich feststellen, dass das kollektive Erinnern bei öffentlichen Anlässen wie Geburtstagen, Hochzeiten und Beerdigungen sich bis zu sieben Generationen erstreckt. Bei diesen rituellen Anlässen, die den Übergang von Leben und Tod, Kindheit und Erwachsenenalter, vom unverheirateten zum verheirateten Status markieren, öffnet sich die Grenzen zwischen privatem Erinnern und öffentlichem Erzählen vor der Matrix der gemeinschaftlichen Geschichte.

Karin: Es ist wirklich erstaunlich, wieso wir so wenig darüber reflektieren!

Astrid: In vielen Alltagssituationen denken wir, meist unbewusst, in diesen Drei-Schritte-Mustern wie „die Großen, ich und die Jüngeren“, „gestern, heute, morgen“ oder „mein Vorgänger, ich und meine Nachfolger“.

In der Psychoanalyse wurde das Drei-Generations- und Verwandtschaftsprinzip theoretisch verschüttet, als Sigmund Freud vor 100 Jahren das ödipale Dreieck zwischen Vater, Mutter und Kind betonte. Seine Schülerin Melanie Klein hat das Augenmerk dann auf das Mutter-Kind-Prinzip reduziert und die Bedeutung der sozialen Realität der Großeltern-, Eltern- und Kinder-Dynamik damit mehr oder weniger geleugnet. Und vielen Müttern seitdem das permanent schlechte Gewissen eingeimpft, weil angeblich nur sie alleine sich für das Gedeihen der Kinder zuständig fühlen sollten! Erst durch die Trauma- und systemische Familientherapie wurde es möglich, z.B. die Genese von psychischen Krankheiten mit transgenerationellen Beziehungsgeflechten und Übertragungsmustern zu verbinden. (AvF. hatte als eine der ersten Autorinnen zur zweiten Generationsproblematik ein Buch geschrieben: „Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation…“, 2000).

Die jahrzehntelange Betonung der Regenbogenfamilien und anderer Minderheiten hatte den nicht beabsichtigten Nebeneffekt, dass man sich weniger um die Themen der Mehrheit kümmerte, d.h. um die sogenannten „Normalfamilien“ mit Großeltern, Vater, Mutter und ein bis zwei Kindern, die immer noch die Mehrheit in den Industrienationen bilden. Was sowohl bei uns in Europa als auch bei der Wahl für Donald Trump in den USA von den Wählern der „sogenannten Mitte“ abgestraft wurde: unendlich viele fühlen sich nicht mehr von der Politik gesehen und sind wütend, weil aus ihrer Sicht nur die diversen Minderheiten  hofiert und unterstützt würden.

Karin: Sie beschreiben, dass das Drei-Generations-Gefüge und die erweiterte Verwandtschaft das ewig menschliche und kulturelle Organisationsprinzip verkörpern.

Astrid: Jeder Mensch ist Teil einer Drei-Generationen-Hierarchie, dieser überschaubaren, real erlebten geschichtlichen Dimension. Seine Traditionen, Werte und Normen werden jeweils von der älteren zur jüngeren Generation durch Erziehung weitergegeben, aber auch abgewandelt und – hoffentlich – weiter entwickelt! Sonst gäbe es keinen gesellschaftlichen Fortschritt!

Die gegenseitige Abhängigkeit wird jedoch seit Jahrzehnten von der Politik vernachlässigt. Wir haben herausgearbeitet, wie anpassungsfähig das Gesamtsystem Familie, das Verwandtschaftssystem und die Drei-Generationen-Hierarchie im Umgang mit einer sich rapide verändernden Welt sind.

Deutlich macht es der Generationen-Forscher Horst Opaschowsky, der 2014 in einer repräsentativen Befragung folgendes erfahren hatte: 88% der Bevölkerung empfindet die Familie als wichtigsten Garanten für die eigene Stabilität und Sicherheit im Leben, nämlich als „Geldanlage, Zukunftsvorsorge und Pflegedienst Nr. 1“. Sie erhoffen sich zu 86% mehr „Wir-Gefühl als Ego-Kult“ und bewerten Freundschaften zwischen den Generationen (84%) als immer bedeutsamer. Die Drei-Generationen-Familie wird gleichsam als „Wagenburg des 21.Jahrhunderts“ gesehen, denn nur sie könne Schutz und sozialen Zusammenhalt bieten (SZ 26.9.2014). D.h., dass die Menschen sehr genau wissen, wer sie wohl im Alter oder bei Behinderungen täglich pflegen werden – wahrscheinlich weniger die Freunde als Familienmitglieder. Durch den zunehmenden Rückzug des Staates aus den sozialen Systemen wird dieser Aspekt immer brisanter und sollte dringend von der Politik honoriert und als ein extrem wichtiger Schutzfaktor für uns alle begleitet, unterstützt und ausgebaut werden.

Karin: Sie beschreiben die immer neuen Generationen-Definitionen. Warum verändern sie sich so rasch?

Astrid: In der Tat, über die Generationen-Abfolgen, die man früher im 25-Jahre-Takt beschrieben hatte, berichten die Medien viel. Der "Spiegel" ebenso wie Medien in England und den USA deklarieren in immer kürzeren Abständen neue Generationen, wie z.B. die Generationen "Golf, X oder Y, Millienials usw.". Ein Versuch, eine WIR-Identität zu etablieren, weil viele gesellschaftliche, berufliche und familiäre Strukturen beständig instabiler werden: durch Ent-Hierarchisierungen in den Büros, Jobhopping, ständig (im Zwei-Jahres-Takt) neue, heldenhaft inszenierte Unternehmenschefs und dadurch eine zunehmend drangsalierte Belegschaft, aber auch durch Trennungsprozessen in den Familien usw.. Die Politik – ebenso wie die Medien – fokussieren sich jedoch stark auf das Kurzzeitdenken der Marktwirtschaft sowie die Interessen von Einzelpersonen und Minderheiten und weit weniger auf langfristige Folgen.

Wir beschreiben dagegen Generationen-Wechsel,  – Gerechtigkeit und Konflikte, welche die gesamte Bandbreite menschlichen Lebens, Handelns und Arbeitens umfassen. Sie umspannen gelungene Pädagogik oder misslungene, Glück oder Unglück, Dankbarkeit oder ewige Verbitterung, Erbstreitigkeiten, Rollenklarheiten in Betrieben, gesellschaftlichen Fortschritt oder Starre, Armut oder Reichtum, Arbeitsplätze oder Konkurse.

Wir zeigen die Normalität der Generationen-Abfolgen und den Nutzen auf, wenn die Politik, das Gesundheitssystem, Therapeuten oder auch Manager erneut entdecken, dass Menschen in Drei-Generations-Mustern erzogen werden, denken und leben. Mit allen Implikationen von Geben und Nehmen, Kraft, Fortschritt und Widerstand, Krieg und Frieden, Erben und Verlieren. Denn die Generationen-Fragen beinhalten all diese Aspekte!

Wir plädieren deswegen für einen intelligenten Umgang mit den Beständigkeiten, der Normalität und den entwicklungsfördernden Aspekten der Generationen-Abfolge. Und machen dies an ungewöhnlichen Fallgeschichten anschaulich, wie Familien (-Unternehmen), Therapeuten, Supervisoren, Manager sowie Politiker kreativer und weitsichtiger mit dieser Thematik umgehen und vorausschauender planen könnten. Wir versuchen unterschiedliche Blickwinkel zu integrieren, und zwar durch unsere Professionen als Gestalt- und Trauma-Therapeutin sowie als Ethnologe, Gruppenanalytiker und Organisationsberater.

Denn es lohnt sich darüber nachzudenken, in welchen Bereichen diese Mechanismen sozial unbewusst wirken und/oder sichtbar werden: in Familien bei unbewusst inszenierten, schmerzhaften Beziehungsabbrüchen oder endlosen Streitigkeiten, in Familienbetrieben bei nur schwierig zu lösenden Erbfragen, bei nicht funktionierenden Manager-Abfolgen, in der Politik, wenn Machthaber alles dafür tun, ihre Macht niemals aufgeben zu müssen, in Großorganisationen, wenn Übergangsregelungen nicht funktionieren und Universitätsinstitute deswegen verwaisen, was den Steuerzahlern jährlich Millionen von Euros kostet!  Und natürlich bei den schwierigsten Aufgaben: beim Umgang mit Abschieden (privaten ebenso wie in Erbfolge- und Nachfolgefragen in der Öffentlichkeit), dem Sterben und dem Tod.

Karin: Gerhard Wilke ein weltweit arbeitender Organisationsberater und Großgruppen-Analytiker, er zeigt viele Beispiele aus dem Bereich von Organisationen

Astrid: Das Drei-Generationen-Prinzip beherrscht Familienunternehmen genauso wie Institutionen oder Familien. Denn es gibt immer asymmetrische, d.h. hierarchische Beziehungen: Großeltern, Eltern, Kinder sowie symmetrisch, statusgleiche: Geschwister, Cousins und Cousinen.

Wir Therapeuten wissen, dass wir diese frühen, realen Erfahrungen in alle anderen späteren Beziehungen einbringen, weil sie zu unserer „emotionalen DNA“ gehören. Im Geschäftsleben sind es dann Partner (mit denen stellvertretend Geschwister-Konflikte ausgefochten werden) oder auf der asymmetrischen, vertikalen Ebene sind es alte und neue Chefs, Junior Chefs und die erfahrenen Meister oder Mittelmanager sowie die einfachen Angestellten – zwischen denen allen hierarchische Probleme auftauchen können. Doch die Hierarchien bilden Strukturen, die sich aus ihrer Existenz heraus legitimieren, weswegen sie, wenn man sie akzeptiert, oftmals schnell und erfahrungsgerecht auf eine Krise oder Herausforderung reagieren könnte - ohne langen Konsultationsprozessen zu unterliegen. Man muss sie oftmals nur positiv neu etablieren und kreativ damit arbeiten.

Karin: Sie haben ein Kapitel über Generationen-Wechsel in der Gesellschaft und in Familien. Was war Ihnen wichtig?

Astrid: Erziehungsarbeit ist natürlich die wichtigste Generationen-Aufgabe. Folgendes wird deutlich: wenn es z.B. bei den jetzigen Jugendlichen 25% gibt, die keinen qualifizierten Schul- und höchstwahrscheinlich keinen qualifizierten Beruf erreichen werden, ist dies ein Generationen-Problem höchsten Grades. Denn die sogenannte „Geschwister-Kohorte“, also die Gleichaltrigen, müssen sie ein Leben lang durchfinanzieren plus den sich immer stärker vermehrenden alten Menschen.

Oder sprechen wir von der Liebe, als dem verkörperte Chaosprinzip, das in der Eheschließung seine dreigenerationelle Ordnung findet, was tendenziell jedoch sozial unbewusst ist. Denn die Paarbildung ist mehr als die Bindung von zwei Menschen aneinander, es ist die Begegnung und Vernetzung von zwei Verwandtschaftsverbänden. Bei rituellen Familienfesten wie Hochzeiten wird deutlich, dass man neben dem Partner einen ganzen Clan mitheiratet und sich zwei dieser Clansysteme ab diesem Tag aufeinander einlassen müssen.

Und in dem Kapitel über Politik beschreiben wir viele Beispiele, welche geschichtlichen Einflüsse auf viele Generationen einwirken, manchmal über Jahrhunderte hinweg. All dies macht deutlich, dass wir in unseren individuellen Leben starken Wirkkräften ausgesetzt sind, die es zu verstehen gilt, um aktiv und kreativ mit ihnen umzugehen und um uns weniger ausgeliefert zu fühlen.

Karin: Was ist ein kurzes Fazit Ihrer Überlegungen?

Astrid: Es wäre sinnvoll und weise, wie es die Bibel und wie es viele Philosophen bereits gesagt haben: wir sollten jede Situation vom Ende her denken! Denn jede beendete Lebens-Phase, jeder beendete Job oder jede Generationen-Abfolge sollte man vorausplanen, sich gedanklich einstellen, was z.B. narzisstisch geprägte Menschen als riesige Kränkung erfahren. Sie tun manchmal alles, um dies zu verhindern. – Aber es macht klug, realistisch und bietet für die Mitmenschen Klarheit und es macht demütig.

 

Erstellt von Karin Demming in Zusammenarbeit mit Astrid von Friesen, Therapeutin und Publizistin www.astrid-von-friesen.de | Linkedin folgen

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